Einst war ich mit meinem Mann bei einer Firmenweihnachtsfeier. Ich hatte meine Wimperntusche vergessen, und so lieh mir eine Kollegin meines Mannes netterweise im Hotelfahrstuhl ihre Mascara. Kurz darauf auf der Weihnachtsfeier sprach mich eine Frau an, und da ich sie nicht kannte und sie mir nicht vorgestellt wurde, war ich unverbindlich-wortkarg, weil ich nicht wusste, was sie von mir wollte. Anschließend nahm mich mein Mann zur Seite, wieso ich denn so unhöflich wäre, der Dame so die kalte Schulter zu zeigen? Denn, wie ich aufgeklärt wurde, handelte es sich bei der Person um eben jene freundliche Kollegin mit der Wimperntusche, die ich schlicht nicht wiedererkannt hatte. So etwas passierte mir häufiger, viele hielten mich vermutlich für irgendetwas zwischen unaufmerksam und unhöflich, während ich mir sagte, dass ich mir nun mal keine Gesichter merken kann – dafür bin ich ziemlich gut im Merken von Daten (damals, als man Telefonnummern noch eintippen musste und nicht einfach nur auf den Namen des Kontakts klickte, hatte ich auch immer alle Telefonnummern problemlos im Kopf). Nur Gesichter sind eben nicht meins.
Doch das Kind hat einen Namen! Prosopagnosie oder zu Deutsch: Gesichtsblindheit. Mit einem Vorkommen von 2,5 % ist diese Störung, die sich vom Wesen her mit Farbenblindheit oder Legasthenie vergleichen lässt, sogar gar nicht so selten. Sie bleibt nur häufig unentdeckt, weil das Gehirn die Fähigkeit hat, Defizite einfach auszugleichen: So erkennen gesichtsblinde Personen wie ich andere zwar nicht am Gesicht, aber an der Stimme, der Art zu reden oder zu laufen oder ganz simpel an der Kleidung. Fallen diese Erkennungsmerkmale allerdings weg, wird es schwierig. So ist es mir erst gestern wieder passiert, dass ich meine eigene Tochter nicht wiedererkannt habe. Sie war ein paar Tage bei meinen Schwiegereltern und gerade bei der Nachbarstochter, als ich sie abholen wollte. Telefonisch wurde ihr mitgeteilt, dass sie rüberkommen soll, und so trat kurze Zeit später ein Mädchen mit Zopf und gelbem T-Shirt ins Wohnzimmer, das ich für das Nachbarskind hielt und gespannt darauf wartete, dass meine Tochter auch reinkommt. Erst, als niemand folgte, sah ich den Gipsarm und erkannte, dass es sich bei diesem Mädchen um meine Tochter handelten musste. Mir fehlten alle Erkennungszeichen: Sie trug einen Zopf und nicht wie üblich die Haare offen, sie hatte mir unbekannte Kleidung an, sprach nicht und würdigte mich keines Blicks. Und schon habe ich sie nicht als meine eigene Tochter erkannt!
Und so gerate ich immer wieder in peinliche Situationen. Wenn ich meinen Sohn vom Kindergarten abhole, habe ich mir hoffentlich morgens gemerkt, was er anhat, sonst kann die Suche eine Weile dauern (wobei ich in solchen Fällen einfach laut rufe und das Kind mitnehme, das daraufhin auf mich zu rennt – ist bisher immer gutgegangen). Werde ich im Supermarkt angesprochen und weiß wie üblich nicht, mit wem ich es zu tun habe, hoffe ich, im Laufe des Gesprächs wenigstens einen Hinweis zu erhalten, woher ich die Person kenne – wenn nicht, habe ich inzwischen Strategien entwickelt, wie ich auf die Frage „und wie läuft’s bei euch?“ so antworte, dass es sowohl zur Sprechstundenhilfe des Tierarztes als auch zur Lehrerin meiner Tochter passt. Jetzt, wo wir wissen, dass es diese Störung gibt, akzeptiert zumindest meine engere Familie diese als Unvermögen meinerseits und deutet sie nicht mehr als Unhöflichkeit. Neulich war ich mit den Kindern beim Optiker und meinem Ältesten wurde eine neue Brille angepasst – eine Woche später holten wir sie ab, und als der zuständige Mitarbeiter uns aufrief, raunte mir mein Großer ins Ohr: „Das ist derselbe wie beim letzten Mal“. Und ich war ihm so dankbar! Konnte ich mit diesem Wissen doch ganz anders mit dem Verkäufer reden.
Ganz erhebliche Probleme habe ich auch bei Filmen – sobald zwei blonde Frauen auftauchen, kann ich der Handlung nicht mehr folgen, weil ich schlicht nicht weiß, wer wer ist. Zweimal musste ich jeden Teil der Millennium-Trilogie sehen, um die ganzen Personen auseinanderhalten zu können. Meine Familie kennt meine ewigen Fragen, ob das die von vorhin sei, bereits zur Genüge.
In den allermeisten Fällen ist die Gesichtsblindheit übrigens angeboren und es gibt ganz schlimme Fälle, bei denen die betroffene Person ein Gesicht nicht von einem Gegenstand unterscheiden kann (ist das meine Tochter oder die Kaffeemaschine?) oder keine Emotionen des Gegenüber erkennen kann. Bei der Fernsehsendung „Stern-TV“ wurden auch Frauen vorgestellt, die Günter Jauch und andere Prominente nicht auf Fotos erkennen konnten. Das kann ich alles. Manche Personen erkenne ich auch problemlos aus tausend anderen wieder, weil sie zum Beispiel ein sehr auffälliges Gebiss oder eine sehr auffällige Nase haben. Umgekehrt begrüße ich allerdings auch manchmal Personen, die ich gar nicht kenne, weil sie dummerweise auch ein auffälliges Gebiss haben.
Auf einen ausgesprochen interessanten Punkt übrigens bin ich bei meiner Recherche gestoßen: Prosopagnosie geht häufig mit Hochbegabung einher und auch die sprachliche Begabung der Betroffenen ist frappant. Ich finde, so betrachtet kann man mit diesem Makel sehr gut leben!
Wie es nach diesem Artikel weiterging: Im Fernsehen
Und dann war ich auch einfach noch einmal im Fernsehen: Opps, I did it again
faby, botschafter des lächelns meint
Krass! Ich habe das schon ein paar mal gehört. Aber so aus erster Hand ist das nochmal was anderes.
Julia James meint
Wow, Miriam, ich hatte ja gar keine Ahnung!
Und genau das ist es wahrscheinlich, was Du am liebsten hörst, oder?
Ich habe die ganze Zeit versucht, mich daran zu erinnern, ob mir irgendetwas in die Richtung beim #Twübersetzertreffen in Berlin aufgefallen ist. Nein, nix.
Ich ziehe echt den Hut vor Dir, da ich mir vorstellen kann, was das täglich für ein Kraftakt ist.
Wie ist das Fernsehen (welcher Sender/welche Sendung überhaupt?) auf Dich gekommen? Und wann gibt es Dich zu sehen? Erzähl‘ doch mal! 🙂
Liebe Grüße
Julia
Miriam Neidhardt meint
Moin Julia,
beim Twübersetzertreffen hatte ich wenig Probleme – die meisten von euch sehe ich ja mehrmals täglich auf dem Foto bei Twitter, insofern sind mir eure Gesichter sehr vertraut 🙂 Außerdem wart ihr ja nur ein paar wenige Personen, die ich einordnen konnte, und keine von euch sah einer anderen ähnlich. Würdest du hier allerdings nachher unangekündigt und ohne Begleitung der Kollegen an der Tür klingeln, würde ich vermutlich fragen, wo ich unterschreiben muss, um das Paket zu erhalten.
Von der Sendung erzähle ich. In einem eigenen Blogposting. Wenn die Dreharbeiten vorbei sind. Nächste Woche. Alles sehr aufregend.
Gruß Miriam
Montserrat Varela Navarro meint
Dieser Bericht hat mich sehr beeindruckt. Es ist wie ein bisschen blind sein, ohne es wirklich zu sein … (Ich sage nicht, dass du blind bist, ich versuche, es mir vorzustellen!)
Wie hast du dann deine Kinder erkannt, als Babys zuerst, später als sie Kleinkinder waren und du sie aus der Kita abholen musstest? Die Frage will nicht aus meinem Kopf … 🙂
Miriam Neidhardt meint
Moin Montserrat,
so dramatisch ist das Ganze gar nicht.
Auch „normale“ Menschen erkennen andere nicht nur am Gesicht – jeder kennt das, wenn sich der andere die Haare abschneiden oder färben lässt, und man denjenigen dann nicht mehr auf den ersten Blick erkennt, weil das Gesamtbild nicht mehr stimmt.
Stell dir vor, du lädst 10 Freunde zu dir nach Hause ein und sagst ihnen dann, dass sich jeder eine Maske aufziehen soll. Ich bin mir relativ sicher, dass du immer noch jeden einzelnen dieser Freunde wiedererkennen würdest, obwohl du deren Gesichter gar nicht siehst. Dir bleiben als Erkennungsmerkmal immer noch die Haare, die Statur, die Kleidung, die Stimme, der Geruch …
Im Kindergarten war es tatsächlich immer gar nicht so einfach, ein Kind herauszufinden: Alle 100 Kinder spielten draußen und keines beachtete mich. Ich habe mich dann stets an der Kleidung orientiert, die ich ja sehr gut kenne, oder aber, wie im Artikel erwähnt, einfach laut den Namen gerufen und das Kind mitgenommen, dass anschließend hocherfreut auch mich zugerannt kam (schwieriger war das natürlich, wenn sich die Kinder eingesaut hatten und mir unbekannte Kindergartenkleidung zum Wechseln bekommen hatten; aber zum Glück kam das nicht allzu häufig vor). Jetzt in der Schule ist es leichter, da stehe ich draußen und die Kinder kommen raus und vor allem laufen meine sofort auf mich zu. Wobei das im Falle meiner Tochter, wie in dem TV-Beitrag erwähnt, auch schon das ein oder andere Mal schiefgegangen ist, wenn sie mich so gar nicht beachtete und dabei womöglich noch eine neue Jacke anhatte. Oder gar eine Mütze dazu, sodass ich ihre Haare nicht sehen konnte. Und schwupps, hab ich sie nicht erkannt.
Aber im Grunde ist das Ganze gar nicht so dramatisch, wie es sich anhört. Rot-grün-Blinde können ja auch wunderbar überleben, obwohl sie nicht erkennen können, ob die Ampel nun rot oder grün ist – sie wissen, dass rot oben und grün unten ist und schon können sie sich orientieren. Ähnlich ist das mit der Gesichtsblindheit. Ich weiß zwar nicht, wie die Lehrerin meines Jüngsten aussieht, aber wenn ich beim Elternsprechtag einen Termin bei ihr habe und in dem Raum eine Frau sitzt, die mir zur Begrüßung die Hand reicht, weiß ich auch so, dass das seine Lehrerin sein muss.
Wirklich blöd ist es eigentlich nur bei Leuten, die ich nur ein oder zwei Mal gesehen habe und von denen mir somit Kleidung, Stimme usw. nicht vertraut sind. Wenn wir das Beispiel mit der Maske von oben weiterführen und du dir vorstellst, dass du durch die Stadt läufst und dort alle eine Maske aufhaben, hättest du vermutlich Schwierigkeiten, aus der Menge heraus einen Freund zu erkennen – zumal, wenn du keinen erwartest und nicht weißt, was er anhat. Dabei hilft es natürlich ungemein, wenn dieser Freund dich erkennt und dich begrüßt und schon würdest du vermutlich erkennen, um wen es sich handelt. Wenn es ein Freund ist, bei einem flüchtigen Bekannten würde das Erkennen vermutlich weniger gut funktionieren. Aber selbst dann ergibt sich aus dem Gespräch oft, um wen es sich handeln könnte. So begrüßte mich im Supermarkt mal eine junge, blonde Frau ganz fröhlich und mit Namen und ich war wie immer total ahnungslos. Bis sie fragte, ob es Nina denn jetzt besser ginge. Nina ist unsere Katze. Mit der ich die Tage beim Tierarzt war. Da die Frau für die Ärztin zu jung war, musste es sich um die Sprechstundenhilfe handeln. Und schon wusste ich, wer das ist, so ganz ohne das Gesicht zu erkennen!
Und so gibt es viele Anhaltspunkte, an denen ich andere erkenne. Anstrengend ist halt nur, dass ich bei jedem Treffen aufs Neue nach diesen Anhaltspunkten suchen muss …
Gruß Miriam
Irina meint
Hallo,
Ich treibe mich hier herum, weil ich mich für Ihr Buch interessiere, ich werde es mir wahrscheinlich zum Geburtstag schenken lassen.
Nun habe ich mir auch diesen Artikel durchgelesen und mir den kurzen Fernsehbeitrag angeschaut – ich hatte von dem Thema früher schon gehört, jetzt weiß ich mehr.
Ich kann mir Gesichter auch nicht sehr gut merken, aber Sie würde ich an den Piercings erkennen – habe ich da ein Inner Conch gesehen…?